Bei der Annäherung an den „Möglichkeitsraum des autobiografischen Schreibens im Tagebuch wie auch im Memoir sind bei mir viele neue Fragen aufgetaucht. Einige durfte ich der Biografieforscherin Birgit Schreiber stellen.

Birgit Schreiber begleitet private Schreibprojekte und leitet Kurse im biografischen und kreativen Schreiben auf den Nordsee-Inseln und im Bremer Schreibstudio (D). Besonders beeindruckt hat mich Birgits Buch “Versteckt: Jüdische Kinder im nationalsozialistischen Deutschland und ihr Leben danach”, in dem sie behutsam und empathisch biografische Interviews mit schwer traumatisierten Menschen führt. In ihrem Blog lädt sie in einen Möglichkeitsraum ein, in dem Erfahrungen beim biografischen Schreiben geteilt werden können.

JV: Was versteht man unter Potencial Space, dem Möglichkeitsraum des autobiografischen Schreibens? Was kann hier Wundersames passieren, wenn es auf einmal mehr Raum gibt?

BS: „Der Psychoanalytiker Winnicott beschreibt, wie Möglichkeitsräume die Seelenentwicklung von Kindern fördern. Sie erlauben die spielerische Auseinandersetzung mit der Realität in einem geschützten Raum und mit Hilfe der eigenen Phantasien. Für Erwachsene ist der Potential Space, der etwa beim Schreiben, beim Malen, beim Betrachten von Bildern, in der Therapie entsteht, ebenfalls ein Entwicklungsraum, in dem wir uns erholen und geschützt neue Erfahrungen machen können.

Der Potential Space des autobiografischen Schreibens hat für mich noch einen zusätzlichen Aspekt. Er entsteht für mich dadurch, dass ich mir beim Schreiben selbst begegne. Auf eine besondere Weise. Ich sage zu mir: Du bist es wert, dass ich Dir zuhöre und Dich ernst nehme. Das tue ich im Alltag nicht immer. Bei der Verabredung mit mir selbst – zum Schreiben – kann ich mir selbst erzählen, was mich bewegt hat und wie ich mich verändert habe. Und vor allem: Ich bleibe aufmerksam, einfühlsam und höre zu. Ich begegne mir selbst wie eine Freundin. Dabei passiert auch das Wundersame: Ich kann erkennen und darüber staunen, welchen Weg ich schon gegangen bin. Diese Erkenntnis macht mir Mut für zukünftige Hürden.“

JV: Welcher besondere Raum entsteht beim autobiografischen Schreiben in der Gruppe?

BS: „Potential Space entsteht für mich auch dann, wenn andere auf meine autobiografischen Texte reagieren – zum Beispiel in der Memoirgruppe im Writer‘s Studio in Wien, in der ich unter anderem darüber schreibe, wie ich meine Mutter zurück gewann, während sie an Krebs starb. In Schreibgruppen begegne nicht nur ich mir, sondern wir begegnen einander. Unsere Leben verbinden sich durch die Texte für einen Moment, wir haben die Chance, durch Identifikation unsere Perspektiven zu erweitern. Mütter haben wir zum Beispiel alle – und über die Konflikte mit ihnen zu schreiben kann ebenso erhellend sein, wie darüber zu lesen oder zu hören.

Wenn Schreibgruppen sensibel angeleitet werden, kann sich der Möglichkeitsraum vergrößern. Das klappt aber nur, wenn der Potential Space eine Schutzzone ist, ein „gehaltener Raum“. Dann erweitern wir uns, wir werden viele. Das ist Inspiration pur.

Von Kursen wie „Zeit für die eigene Geschichte“, die ich regelmäßig auf den Nordseeinseln gebe, bringe ich den Möglichkeitsraum wie eine schützende Hülle mit aufs Festland. Für Tage und Wochen danach fühle ich mich mit den Kursteilnehmern verbunden, kreativ und gestärkt. Ein nachhaltiger Potential Space ist entstanden.“

JV: Danke für deinen Gastbeitrag! Ich freue mich schon auf das nächste Schreibtreffen im „gehaltenen Raum“.

Author Profile: Mag. Johanna Vedral begleitet Studierende beim Schreiben ihrer Abschlussarbeiten (Masterthese, Diplomarbeit, usw.) mit Lektorat, Developmental Editing und konstruktivem Textfeedback. Sie gibt Einzelcoachings und Workshops, hält Vorträge und schreibt Bücher. Hier geht es zum Beratungsangebot.
Kontakt: johanna.vedral (at) schreibstudio.at   www.schreibstudio.at
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  1. […] Schreiber wies mich vor kurzem auf den Begriff “Serendipity” hin, als wir über Möglichkeitsräume des Schreibens sprachen. Serendipity kann in etwa mit „glücklicher Zufall, unerwartetes Neuland entdecken“ […]

  2. […] ich mich für nichts zu schämen bräuchte?”. Fragen, die uns in den wilden, ungezähmten Möglichkeitsraum in uns bringen, in dem es weder Bewertung noch Regeln gibt, dem Platz, an dem wir vollständig […]

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