Alte Tagebücher abzutippen, als Einstimmung für einen Roman, der in den 90er Jahren spielt, mag fürs erste nicht so kreativ aussehen. Für mich stellt sich das aber als eine erkenntnisreiche Entdeckungs-Zeitreise dar, in die Zeit, das erste Handy und der erste internetfähige Computer Einzug in mein Leben gefunden und mein Leben, mein Schreiben, mein Denken und auch meine Erinnerung für immer verändert haben. Ich entdecke Anteile meines Selbst wieder, die ich ohne das Tagebuch vergessen oder „übermalt“ hätte.
Das führt zum Nachdenken übers Erinnern. Wie fühlt er sich an, der Stoff, aus dem die Erinnerungen sind? Wie passt das Selbst von 1994 mit dem Selbst von 2020 überein? Ist es noch dasselbe Selbst?
Der Gedächtnispsychologe John Kotre beschreibt die Entwicklung des Gedächtnisses im Erwachsenenalter als ständige Übermalung des Selbstporträts, das wir erstmals in der Adoleszenz anlegten. Wenn wir aus Erinnerungen Fiktion formen, uns selbst neu erzählen, ist das eine bewusste Übermalung. Beim Lesen der alten Tagebücher frage ich mich: Wie viele Übermalungen des Selbst gab es seitdem? Und ich staune von Neuem über den Prozess der Revision, der aufs Engste mit dem Erinnern verbunden ist. Wie viel Überarbeiten und Erinnern miteinander gemeinsam haben und wie sich die langfristige Wirkung der Übermalung meines jugendlichen Selbst anfühlt, konnte ich im jahrelangen Schreib- und Überarbeitungs-Prozess meines Romans „Freiheit, du wildes Tier“ erforschen.
Es fasziniert mich weiterhin, wie eng Erinnerung und Revision zusammenhängen und somit starre Konzepte von „in Stein gemeißelten“ Erinnerungen auflösen. Noch immer sehen viele das Gedächtnis genauso wie Freud: Wir glauben, dass alles, was wir erleben, irgendwo für immer im Gehirn gespeichert wird. Wir glauben also an die Dauerhaftigkeit und potenzielle Abrufbarkeit von Erinnerungen. In der Psychologie ist aber seit Jahrzehnten bekannt, dass Erinnerungen im Gehirn nicht starr gespeichert, sondern immer wieder umgebaut werden. Das im Gehirn Gespeicherte verändert sich laufend, weil das Gehirn sich laufend verändert.
Unter anderem verändern auch Technologien unser Gehirn. So verändert z.B. der häufige Gebrauch von Internet-Suchmaschinen die Art, wie wir Informationen im Gedächtnis behalten: Wir erinnern uns eher an das „Wo“ als das „Was“. Das Konzentrationsvermögen und das Arbeitsgedächtnis werden kleiner, wenn wir nicht mehr selbst versuchen, Wissen abzuspeichern. Problematisch wird dieses Auslagern des Wissens, wenn wir über komplexe Probleme nachdenken und selber auf neue Lösungen kommen wollen.
Wie schreibe ich über die Zeit vor dem Internet? Wie kann ich mich wieder daran erinnern? Eine Möglichkeit ist, in Tagebüchern nachzulesen, denn immer, wenn man autobiografische Erinnerungen mit externen Aufzeichnungen vergleicht, sind die Aufzeichnungen präziser. Das liegt daran, dass Erinnerungen eher rekonstruiert als wiedererlangt werden. Rekonstruktion bedeutet Verändern und Hinzuerfinden von Erinnerungen. Besonders spannend wird das bei Erinnerungen aus der Prä-Internet-Ära. Wie genau sind meine Erinnerungen? Letztendlich kommt es dabei aber auf die narrative Wahrheit an, nämlich die ästhetische Kohärenz, die zum gegenwärtigen Charakter – meinem 2020er-Selbst – passt.
Abbildung: Kunstprojekt von Douglas Copeland: „I want my pre-internet brain back“ (2012)
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