Warum lesen Menschen so gerne wahre Geschichten von grauenhaften Kindheiten, Folter, Missbrauch und Schicksalsschlägen?, fragt Silvia Jelincic. Eine große Frage…
Krimis, Thriller, Horror und seit den 90ern das Memoir, ganz besonders das Misery Memoir oder das Survivor Memoir, zählen zu den beliebtesten Genres in Literatur und Film. Auch in den Nachrichten dominieren Mord, Krieg und Verbrechen. Die Faszination des Menschen für Gewaltdarstellungen wird auch in Computerspielen und auf diversen Internetseiten deutlich sichtbar.
Gibt es so viele traumatisierte Menschen, die in Misery Memoirs, Horrorfilmen und brutalen Computerspielen ihre Traumata aufzuarbeiten versuchen? Oder ist dieses Interesse am Bösen, Dunklen und Grauenhaften Ausdruck davon, dass wir in einer Kultur der digitalen Selbstentblößung leben? Durch die Vielfalt der modernen Medien scheinen die Bilder und Stories von unsäglichem Grauen allgegenwärtig und viel präsenter als früher zu sein. Doch die Faszination des Grauens ist kein Phänomen unserer Zeit, sie lässt sich weit zurückverfolgen. So gab es bereits im 18. Jahrhundert einen wahren Boom der Faszination an Brutalem, Grauenhaftem, Verbrechen und Krankheit (Frankenstein, Dracula, Cthulhu usw.).
Was steckt hinter dieser Lust am Grauenvollen, die uns Horror, brutale Pornos, Splatter oder gar Snuff Videos genießen lässt? Was fasziniert am Schicksal eines Holocaust-Überlebenden, eines Kindes, das in einem Keller gefangen gehalten und missbraucht wird? Was lässt uns vor Lust erschaudern, wenn wir von den erniedrigenden Erfahrungen einer Crack-Überlebenden lesen? Woher kommt diese Lust-Angst?
„Das Wissen, dass wir selbst unversehrt aus diesen schrecklichen Erlebnissen hervorgehen können, ist die Voraussetzung für das lustvolle Empfinden von Angst“, sagt Manuela Weiß: „So wandelt sich ein unerwarteter Schock für den Menschen schnell in Lust, wenn er bemerkt, dass keine wirkliche Gefahr besteht. Dieses Phänomen sorgt im Horrorfilm für Vergnügen an den Schockelementen. (…) Die Konfrontation mit dem Tod kann sogar zur höchsten Lustquelle avancieren, da aus der schlimmsten aller Ängste die höchste Angstlust erwächst.“
Laut Sigmund Freud spiegelt das Interesse des Menschen für alles Niedere, Unmoralische und Schreckliche seine archaischen Triebregungen. Anders gesagt: Der Mensch ist eine Bestie, mit einer dünnen Tünche Zivilisation drüber. Eine zivilisierte Form, „die Bestie raus zu lassen“, ist, gemütlich und in wohliger Sicherheit am Sofa Filme anzuschauen oder Geschichten zu lesen, in denen andere Menschen Schreckliches erleben.
An welches menschliche Grundbedürfnis Survivor Stories andocken, erklärt Lisa Cron („Wired for story“) so: „Story originated as a method of bringing us together to share specific information that might be lifesaving.“ D.h. beim Lesen von schrecklichen true stories sind wir von dem Bedürfnis angetrieben, Überlebensstrategien zu finden, für den Fall, dass wir selbst einmal in so eine Situation kommen. Man weiß ja nie.
Bildquelle: „Open the door“, Collage von Johanna Vedral
Danke, Johanna! Ein wichtiger und guter Überblick!