„So viele Erkenntnisse wie du möchte ich auch gerne haben“, bemerkte mein damals 40jähriger Ehemann Nr. 2, wenn ich als 30jährige mal wieder fast platzte vor Erkenntnislust. Jeden Tag entdeckte ich etwas Neues und erzählte das natürlich allen, übersprudelnd, voller Begeisterung! 40, dieses seltsame Alter schien mir damals unendlich weit entfernt. Dass das ein spannendes Alter sein könnte, das kam in meinem Denken nicht vor. Heute weiß ich es besser…

Ich glaube, dass die zweite Lebenshälfte ein unglaublich spannender Lebensabschnitt ist, der bei weitem nicht so vorgezeichnet ist wie die erste Lebenshälfte. Denn unsere Gesellschaft hat bis jetzt kein passendes Alternsbild, keine Vision eines gelungenen Alterns entworfen. Dabei gibt es faszinierende Vorbilder für gelungenes Altern, wie z.B. folgende Menschen, die auch in ihren 80ern oder 90ern voller Erkenntnislust und Wissen sind.

Der 85jährige „Rockstar der Neurowissenschaften“, der Nobelpreisträger Eric Kandel sprüht nur so vor Lebendigkeit, Humor und wachem Geist. „I really love teaching!“, verkündet er mit einem mitreißenden Lächeln, und dann erklärt er, wie das menschliche Gedächtnis funktioniert oder was im Gehirn passiert, wenn der Mensch ein Kunstwerk betrachtet.

Ein anderes Beispiel für gelungenes Altern ist für mich die 82jährige Psychologin Naomi Feil, die Begründerin der Validation in der Pflege. Validation ist eine Methode, um Alzheimerpatienten und alten desorientierten Personen zu helfen, ihr Selbstwertgefühl wieder herzustellen, ihre Würde wieder zu erlangen und ihren Stress zu reduzieren und so ihren Lebensabend glücklich zu verbringen.

Mit 38, frisch verliebt, fühlte ich mich noch sehr jung. Meine jüngste Tochter war 5 Jahre alt, also gerade aus dem Gröbsten draußen, wie man so sagt. Und nun verkündete mir meine Älteste, dass es zu Weihnachten ein Baby geben würde. Gelinde gesagt: Ich war not amused. Ich sollte Großmutter werden und in die zweite Lebenshälfte eintreten? Und das schon vor meinem 40er? Großmutter, das war doch nicht ich, sondern meine eigene Großmutter, damals gerade rüstige 97. Ich selbst hatte noch keine Vision, noch keinen Plan, wer ich als ältere Frau sein wollte, denn: alt sind ja immer nur die anderen.

Ich war einfach nur im Schock, „Midlife Crisis halt“, sagte meine schwangere Tochter grinsend. Was konnte denn nach 40 noch Spannendes kommen außer noch mehr Enkelkindern? Ich hatte eigentlich kaum noch Wünsche ans Universum. Ich hatte ja schon alles erreicht, was wollte ich noch mehr? Nicht vorstellen konnte ich mir damals, dass sich mein berufliches Leben ab 44 endlich nur noch ums Schreiben drehen würde. Ich konnte mir schon gar nicht vorstellen, dass ich mich mit 46 noch einmal Hals über Kopf glücklich verlieben würde.

Vielleicht ist Älterwerden ja ein Abenteuer? Die Autorin von „Die Radikalität des Alters“, die deutsche Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich, sagte mit 92: „Im Denken und Fühlen bin ich heute wie damals, mit 30. Also dieses Mehrwissenwollen und das Erkennenwollen von Wahrheit.“

Heute, mit 47, habe ich dieselbe Erkenntnislust wie als junge Frau. Wenn ich dann in den Spiegel schaue, wundere ich mich manchmal… Ich habe mittlerweile vier Enkelinnen und sehe auch den Urenkeln gelassen entgegen. Ich habe neue Träume, wenn auch nicht mehr eine so lange Wunschliste wie mit 30. Ich möchte nur noch ganz viel reisen, noch viele interessante Menschen treffen, noch ganz viele Bücher schreiben und die Möglichkeiten meines Geistes erforschen…

Ich glaube, dass die zweite Lebenshälfte ein unglaublich spannender Lebensabschnitt ist, ein Abenteuer, dessen Dimensionen ich noch gar nicht ermessen kann. Ich freue mich schon drauf, wie`s weiter geht!

Johanna Vedral

125.000 (!) Personal Essays, in denen Menschen über ihre Werte und Glaubenssätze schreiben, u.a. Helen Keller, Thomas Mann, Albert Einstein, gibt es auf http://thisibelieve.org/ zu lesen und/oder als Podcasts zu hören.
Gemeinsam mit anderen Schreibenden kannst du das Handwerk des kreativen Schreibens anhand eines Personal Essays z.B. hier lernen: Im Seminar Writers` Tricks im writers`studio, Wien. Nächster Termin: 30. April & 1. – 3. Mai 2015, Do 16-19.30 Uhr, Fr – So 9-12.30 Uhr

Weitere Artikel zum Thema Altern veröffentliche ich laufend auf der Plattform fisch+fleisch, z.B. Schreckgespenst Alter: Wie verändert sich die Leistungsfähigkeit wirklich?

6 Kommentare
  1. bschreiberin sagte:

    Liebe Johanna, wie wunderbar, dass Du das Thema zweite Lebenshälfte ansprichst. Mein Vater wurde nur 54, meine Mutter 67, mein Mann verlor beide Eltern schon als Teenager. Ich sehe das als eine biografische Hypothek einerseits und eine Aufforderung andererseits, mich täglich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Es gelingt oft, aber nicht immer. Ist eigentlich auch ein Thema für einen „This I believe Essay“
    Es gibt ein schönes Buch zum Thema von Ulrike Scheuermann: „Wenn morgen Dein letzter Tag wär“, in dem es nicht ums Lebensende geht, sondern darum, jetzt erfüllter zu leben. Und wen’s interessiert, wie heute über das Alter gedacht und gesprochen wird, der kann auch gern meinen Artikel in Psychologie Heute dazu lesen: http://www.schreibercoaching.de/journalismustexte/artikel/psychologie-heute/

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  2. TINE sagte:

    Hallo Johanna,

    älter werden ein Abenteuer… ganz bestimmt. Die Jahre zwischen 40 und jetzt (47) waren auch bei mir sehr spannend und ich bin weiterhin gespannt, was sich mir noch alles öffnet.

    Liebe Grüße
    Tine

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  1. […] was ein Gefühl von Mangel hinterlassen hatte. Bis das Thema verarbeitet ist. Wie meine Kollegin Johanna Vedral schreibt: Validation ist eine Methode, um Alzheimerpatienten und alten desorientierten Personen zu […]

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