Schreiben hilft

Das Tagebuch ist für die meisten Schreibenden so etwas wie die innerste Windung des Schneckenhauses, das privateste aller privaten Refugien. Tagebucheinträge sind nicht für die Augen anderer bestimmt und sollen dazu dienen, sich frei, ohne Angst, ohne Bewertung, ausdrücken zu können. Das Tagebuch ist für viele wie eine beste Freundin, der sie alles sagen können, ohne sich vor Missbilligung fürchten zu müssen. Im Tagebuch schreiben wir nackt und roh und zeigen uns schutzlos, verletzlich und ungeniert.

Was passiert, wenn jemand heimlich in meinem Tagebuch liest?

Wie privat sind Tagebücher wirklich? Und was kann es in Beziehungen zwischen Partnern oder Eltern und Kindern bedeuten, wenn in diese Privatsphäre eingebrochen wird, diese Grenzen der Privatheit nicht respektiert werden? Wenn geschnüffelt und spioniert wird? Wenn die vermeintlich geheimen Inhalte sich entweder im Schnüffler einnisten und dort ein Eigenleben führen, weil der Schnüffler ja seine Tat geheim halten will? Oder wenn der Schnüffler nicht schweigen kann und herausposaunt, was er gelesen hat? Wenn er den Tagebuchschreiber dafür zur Rede stellt? Oder wenn er das sich heimlich über den anderen in der Tagebuchlektüre angeeignete Wissen in Beziehungskonflikte einbringt?

Mir als jahrzehntelanger Tagebuchschreiberin ist es schon mehrmals passiert, dass in die Privatsphäre meiner Tagebücher eingedrungen wurde.

Als ich 17 war, schnüffelte mein Vater in einem Tagebuch, in dem ich erst zehn Seiten beschrieben hatte, darin aber von Sex und Drogenexperimenten berichtete. Diese unbefugte Lektüre führte zu einem ernsten Gespräch mit meinem Vater – und zu besseren Verstecken für meine Tagebücher.

Später las mein erster Ehemann in meinen Tagebüchern, einerseits, um herauszufinden, ob ich nicht hinter seinem Rücken mit anderen Männern Kontakt hatte, andererseits um Material für unsere täglichen stundenlangen Streitgespräche zu haben. Das führte bei mir dazu, dass ich meine Tagebucheintragungen zensierte und viele Gedanken nicht mehr so frei fließen durften wie zuvor. Ich sparte also vor ihm und auch vor mir selbst geheime Gedanken aus.

Jahre später las meine damals 16jährige Tochter in meinen Tagebüchern, wenn ich nicht zuhause war. Das war für mich ganz besonders schlimm. Musste meine halbwüchsige Tochter sexuelle Fantasien ihrer Mutter lesen und alles über psychische Krisen?

Als ich sie deswegen zur Rede stellte, erzählte sie mir ihre Vorstellung von Tagebüchern, so Z.B. dass sie für ihre Oma extra provokante Fake-Tagebücher schrieb und sie so auslegte, dass ihre Oma sie finden musste. Sie schrieb darin Einträge wie, dass sie in den Park ging, um nach dem Kiffen mit einem Schwarzen im Gebüsch Analsex zu haben. Und ihre Oma glaubte das und rief mich empört an, ob ich wisse, dass meine Tochter auf den Strich gehe…

Wie man es dreht und wendet, das unbefugte Lesen des Tagebuchs eines anderen stellt einen massiven Vertrauensbruch dar. Geheimnisse sind die Währung einer Freundschaft. Wenn wir die Intimität einer Beziehung vertiefen wollen, werden wir private Gedanken oder Geheimnisse mitteilen. Wenn jemand diese Geheimnisse aber ausspioniert, zeigt das eine Schieflage in dieser Beziehung. Und die wird durch das heimliche Unrecht des Tagebuchschnüffelns sicher nicht gerader gerückt, sondern noch schiefer.

Johanna Vedral

6 Kommentare
  1. Justme sagte:

    Ich kenne das.

    Meine Mutter hat es gelesen, ich war ca 14 und sehr rebellisch in den Zeilen ( sonst nur normaler Teenager). Sie haben es mir vorgehalten und meine Zeilen gegen mich verwendet. Es gab einen tiefen Bruch. Ich habe es nie vergessen.
    Seitdem traue ich mich nicht mehr mein Innerstes wirklich zu schreiben. Obwohl ich allein lebe und man per Computer mit Passwort alles schützen kann. Es ist nie alles ehrlich.
    Habe mich von dem Schock nie wirklich erholt und es beeinflusst mein Schreiben 20 Jahre später immernoch……

    Danke für deinen Blogeintrag !

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  2. TINE sagte:

    Auch ich habe bereits schlechte Erfahrungen gemacht. Was bleibt ist ein Gefühl von Misstrauen allen gegenüber, die sich in unserer Nähe befinden, die vielleicht niemals unsere Tagebücher lesen würden, denen wir vertrauen könnten, die aber das Erbe unserer Erfahrungen ausbügeln müssen.
    Schade!
    Liebe Grüße
    Tine

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    • Johanna Vedral sagte:

      Liebe Tine, danke für deinen Kommentar… Ich vertraue immer wieder von Neuem auf die grundlegende Ehrlichkeit und das Wahren meiner Privatheit durch meine Liebsten… und lasse mich auch durch wiederholte Tagebuch-Voyeur-Attacken nicht davon abbringen…

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  3. TanJi sagte:

    …ich fühle mich meines Gedanken- und Seelenlebens beraubt. Beschimpfungen und Bedrohungen waren die Folge eines einzigen Gedankens, welcher niemals hätte ausgesprochen oder ausgelebt werden sollen, der nur in Form einer winzigen Wortgruppe sich in meinem Tagebuch wiederfand. Man fühlt sich vergewaltigt. T.R.

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  4. Ramona sagte:

    Ich musste leider auch diese Erfahrung machen. Ist echt ein Mieses Gefühl.
    Mein Partner hat schon mehrfach meine Tagebücher gelesen und mich zur Rede gestellt, wenn ich mich beispielsweise über ihn darin ärgerte. Er sucht auch gezielt nach Hinweisen der Untreue und las z.B auch Einträge von Intimitäten mit einem anderen Mann VOR der Beziehung mit ihm. Das wird mir ebenfalls vorgehalten und es wird immer wieder gestichelt.
    Mittlerweile schreibe ich bloß noch Dinge hinein, die er gerne lesen würde und habe mir statt dessen ein weiteres Tagebuch zugelgt, das ich außerhalb der Wohnung verstecken muss. (Er entdeckte bisher alle Verstecke) Darin allerdings schreibe ich auch nur sehr vorsichtig formuliert die wahren Fakten.
    Ich glaube aber, dass diese Beziehung keine lange Dauer haben wird. Das Vertrauen ist futsch.

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