„Hast der Autor das so erlebt oder erfunden?“, wollen LeserInnen gerne wissen, wenn sie einen Text lesen. Und viele AutorInnen befürchten, mit ihren Texten, ihrem fiktionalen Ich gleichgesetzt zu werden. Beim Lesen begegnen wir dem Text wie auch dem Autor – doch ist der Autor nie mit dem Text gleichzusetzen, denn: „Das, was als privat erscheint, kann nicht privat sein, denn das Ich in der Literatur ist kein autobiographisches, sondern immer ein fiktionales, ein erfundenes Ich.“[1]

Kann erzählende Prosa überhaupt ohne Erfahrung des Autors auskommen? Gibt es Prosatexte, die nichts mit dem Autor und seinen Erfahrungen zu tun haben? Und heißt das, dass jeder Text autobiographisch gefärbt ist? Nein, denn „die autobiographisch Wirklichkeit ist stets nur das Rohmaterial für den Text.“ Es geht aber in einem Text nie um die Wirklichkeit, sondern um Erinnerungen: „Am Anfang allen Schreibens steht die Erinnerung“, postuliert Anna Mitgutsch.

Die Fiktionalisierung dieser Erinnerungen, d.h. die Umformung des Erlebten, des Erinnerten zur Geschichte ist schon ein schöpferischer Vorgang. So wie der Traumtext schon nicht mehr mit dem Traumerleben gleichzusetzen ist, denn der aufgeschriebene Traum ist schon eine fiktionalisierte Erinnerung an einen Traum. So wird Erinnern zur textkonstituierenden Tätigkeit, d.h. Erinnerungen, Gefühle und Stimmungen werden neu geordnet. Es gibt daher auch keine historische Wahrheit in der individuellen Erinnerung des Menschen, sondern stets nur eine narrative Wahrheit

Wer ist es, der im Roman Ich sagt? Das fiktionale Ich artikuliert eine existenzielle Erfahrung, doch die Intensität der Sprache und der Darstellung kommt aus dem realen Schmerz der Autorin. Dieser Schmerz erzeugt Glaubwürdigkeit, indem er authentische Stimmungen und Gefühle künstlerisch neu arrangiert, in einen neuen Kontext stellt. Dieser Kontext, der die subjektiven Erinnerungen des Autors exemplarisch, allgemein gültig und nachvollziehbar macht, kreiert aus den Erinnerungen „etwas, das sich der Leser als (…) eigene Wahrheit aneignen kann.“

[1] Mitgutsch, Anna (1999). Erinnern und Erfinden. Grazer Poetikvorlesungen. Graz: Droschl Verlag

2 Kommentare
  1. bschreiberin sagte:

    Hat dies auf bremerschreibstudio rebloggt und kommentierte:
    Neue Autobiografie – wie wahr ist die Wahrheit?
    Schreiber*innen stellen mir häufig die Frage, wie wahrheitsgetreu denn Ihre Erinnerungen im Memoir sein müssen. Schließlich bleibt uns nicht jedes Wort, das wir vor 30 Jahren gesagt haben, genau im Gedächtnis. Und manche Menschen, die einen prägten, möchte man nicht erwähnen – etwa um sie zu schützen. Andere – vielleicht wesentliche Szenen – hat man vergessen. Was tun? Meine Antwort: Es geht um Ehrlichkeit Euch selbst gegenüber und darum, Eure emotionale Wahrheit darzustellen. Natürlich wird Frau und Mann unglaubwürdig, wenn sie eine Geschichte komplett um die emotionale Wahrheit herum erfinden, wie es vor einigen Jahren der Autor Wilkomirski getan hat: Er hatte seine Verfolgung als Jude erfunden und darüber eine Biografie geschrieben. Der Glaubwürdigkeit von Zeitzeugenberichten hat er dadurch eine Zeitlang sehr geschadet. Im Memoir – im Gegensatz zum fiktionalen Text – geht es darum um die narrative Wahrheit, um die Erinnerungen, die wir – weil sie emotionale Bedeutung erlangt haben – speichern konnten. Da darf eine Jahreszahl schon mal falsch sein, auch ein Zitat muss nicht wortgetreu sein, aber das Gefühl, das ein Dialog in Euch auslöste, die Entwicklung, die ihr dank des Gesprächs machen konntet, die möchte ich als Leser*in so wahrhaftig wie möglich geschildert sehen. Denn dies Versprechen gebt ihr als Autor*in eines Memoirs: Ich werde Dir, liebe Leserin, lieber Leser, so wahrhaftig wie möglich erzählen, wie ich zu dem oder der geworden bin, die ich bin.
    Heute reblogge ich für Euch einen Beitrag der Autorin und Schreibpsychologin Johanna Vedral, in dem es um das „Ich“ in fiktionalen Texten geht. Viel Spaß …

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    • Johanna Vedral sagte:

      Danke für deinen Kommentar zu dieser wichtigen Grundsatzfrage des autobiographischen Schreibens. Scheint, als würden wir gerade parallel, du in Bremen, ich in Wien, an Reflexionen über das Memoirschreiben schreiben. 🙂 Ich freue mich hier auf mehr Austausch.

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