Freiheit, du wildes Tier“ ist aus einem Memoir heraus entstanden und wurde weiterentwickelt zu einem Roman. Ein langer Prozess, der aber stets interessant und lohnend war für mich. Meine Verlegerin Andrea Schiffer wollte wissen, was an diesem Prozess, einen Text in etwas Neues zu transformieren, für mich besonders spannend war.

Zuerst war das Aufschreiben von Erinnerungen
Angeregt durch die Schreibübungen in Ana Znidars Memoir-Workshop erforschte ich auf Hunderten Seiten die Erlebnisse mit meiner Mutter, meinem Vater, meinen Großmüttern, ich schrieb fiktionale Szenen über meine unbekannten Großväter, über die Beziehung zu meiner Schwester, über meinen ersten Ehemann. Hundert Themen, ich schrieb über das ganze Leben, wie das häufig der Fall ist, wenn Schreibende sich aufs Schreiben über das eigene Leben einlassen. Es ging für mich in diesem Prozess jahrelang nicht darum, ein Buch daraus zu machen. Dann spielte ich mit dem Genre Memoir, wo es darum geht, eine persönlich erlebte Geschichte wie einen Roman zu gestalten, ganz nah an der Wahrheit, der Chronologie, den Tatsachen. Ich war immer wieder ein paar Wochen dran, dann ließ ich es ruhen, oft monatelang abhängen.

In Kontakt treten mit dem Schmerz
Andere Memoirschreiberinnen hörten und lasen diese Texte und traten mit ihnen in Interaktion. Ich erkannte, dass meine Geschichte(n) andere berühren. Das Schreiben ließ mich wieder in Kontakt treten mit meinem verwundeten, schwachen und zugleich starken, aufmüpfigen und verzweifelten jüngeren Ich. Das war heilsam, denn es erlaubte mir, ganz genau hinzuschauen, dem Schmerz nicht auszuweichen, bislang blinde oder ausgeblendete Stellen zu beleuchten, mit allen Sinnen.

Wohlwollender Blick aufs jüngere Ich
Die Memoirgruppe half dabei, dass dieser Prozess gehalten wurde, ich nicht allein war mit meiner Vergangenheit. Ich lernte viel durch das Hören/ Lesen der Memoirtexte anderer und natürlich durch das friendly feedback auf meine rohen Texte. Der Blick auf mein jüngeres Ich durfte liebevoll und wohlwollend sein, dabei unterstützte mich die Memoirgruppe, in der ich eine erste Resonanz auf meine Texte bekommen konnte. Ich lernte, dass diese Frauen bereit waren, mir zuzuhören. Dass sie nicht zurückschreckten vor schlimmen Geschichten.

Die Leserinnen nicht (re)traumatisieren
Die Memoirgruppe gab mir Feedback, wie ich den Stoff aufbereiten konnte, um LeserInnen nicht zu (re)traumatisieren. Es sollte ja kein Misery Memoir werden, bei dem beim Lesen nichts zurückbleibt außer Entsetzen über die grauenvollen Dinge, die Menschen anderen Menschen antun können. Es geht in einem Memoir darum, den Leserinnen zu zeigen, wie die Autorin durch ihre Erlebnisse gewachsen ist und sich weiterentwickelt hat, wie sie vom Opfer zur Heldin wurde. Dabei geht es nicht darum, Schreckliches zu beschönigen, sondern es so aufzubereiten, dass LeserInnen dranbleiben können. Dazu brauchte es mehr Hoffnung und mehr Stärkendes.

Vom Opfer zur Heldin
Das war der größte Schatz, den die Transformation meines Lebens in einen für andere lesbaren und erträglichen Text mir schenkte: dass ich meinen Blick mehr und mehr auf die Stärken, Ressourcen und hilfreichen Elemente in meinem Memoir lenkte. Beim Schreiben tauchten dann wie von selbst auch solche guten Erinnerungen auf, um die schrecklichen Erinnerungen aufzuwiegen und ein ausgeglicheneres großes Ganzes zu schaffen. So wurde das oft sehr fordernde schreibende Wiedereintauchen in meine Kindheit und Jugend auch für mich leichter erträglich. So veränderte sich auch die Erzählung meiner selbst. Ich wurde beim Schreiben des Memoirs immer mehr zur Heldin – und versöhnte mich mehr und mehr mit meinem jüngeren Ich.

Von der autobiographischen Wahrheit zum stimmigen Plot
Schließlich hatte ich meine Geschichte so weit durchgearbeitet, hatte mich daran abgearbeitet, MEINE Geschichte zu erzählen. Ich wollte keine Bekenntnisse oder Anklagen veröffentlichen. Das hatte ich durch. Nun wollte ich eine lesbare spannende Geschichte daraus formen, einen Roman.

Im Zuge der Aufbereitung des autobiographischen Materials kristallisierte sich immer stärker heraus, dass das erzählende Ich zu einer sichtbaren Figur werden musste, auch für Leserinnen außerhalb der Memoirgruppe. Einer Figur, deren Motive andere verstehen können, deren Abenteuer sie interessieren, deren Geschichte sie mitfiebern lässt.

Das ganze Material erfuhr daher einen Fiktionalisierungsprozess. Die Wahrheit, die richtige chronologische Abfolge der Ereignisse, wer was wann gesagt hat, wie viele Freundinnen oder andere Figuren wann und wie im Spiel waren, das wurde nun einem stimmigen Plot untergeordnet. Manche Personen in der Geschichte wurden weggelassen, andere zu einer fiktiven Person verdichtet. Neue Szenen entstanden, die zeigten, wie die Protagonistin sich weiterentwickelte. Eine schlüssige Abfolge der Szenen, ein stimmiger Anfang und Schluss wurden gesucht. Friendly Feedback war für diesen Transformationsprozess des Memoirmaterials enorm wichtig. Es half, den Lesefluss, die Erzählstruktur zu optimieren, ein paar Darlings zu killen und etwaige blinde Flecken oder holprige Stellen zu überarbeiten.

Was ist wahr? Was ist erfunden?
Das Interessante am Neuschreiben und Umschreiben von Erlebtem und Erinnerten ist, dass sich die Erinnerung dadurch verändert. Die erzählte Version der Geschichte wird lebendiger, bunter und wahrer als die ursprüngliche Erinnerung. Es ist heilsam, aus dem Rohstoff des eigenen Lebens Fiktion zu erschaffen.
Was ist wahr? Was ist erfunden? Und welche Rolle spielt das letztendlich?

Cover: Andrea Schiffer (punktgenau)
Text: Johanna Vedral

2 Kommentare
  1. Elisabeth Scherf sagte:

    Eine wundervolle Ermunterung zum Schreiben iat das, liebe Johanna. Sich selbst verstehen lernen, das heißt
    auch andere zu versehen. „i never promised you a rose-garden“ heißt ein englisches Buch, das diesen Prozess auf seine Weise beschreibt. Dein Blog beschreibt ganz toll, wie man glücklich alt werden kann. Wenn man seine Geschichte begreift und schätzt, dann ist Alter ein wundervoller Zustand. Danke für die Ermunterung für alle Schreibbegeisterten.

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  2. Auguste Reichel sagte:

    Ein besonderes Buch, weil ich Johanna bei einem Collage dream Workshop kennenlernen durfte. Und ich neugierig bin auf „Lebensgeschichten“…mein Beruf als Psychotherapeutin eignet sich gut dazu. „Freiheit, du wildes Tier“ ist faszinierend und packend… wenn nur ein Drittel davon „wahr“ ist, im Sinne von erlebt, so kann ich „Eva“ nur bewundern, wie sie ihren Weg „ins“ Leben geschafft hat. Die Geschichte ist schmerzlich und sehr berührend, konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legte… Es zeigt den Überlebenswillen einer jungen Frau…ich fragte mich dann: Warum lassen sich Frauen so verletzen? Von Frauen, von Männern? Ein heilsames Buch. Es erzählt von der Suche nach Liebe und nach Mutterliebe. Danke Johanna!!!!

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