Endlich passt das Wetter für diesen wunderbaren Text von Sigrid Eyb-Green! „Es ist gut, sein ganzes Leben verwunderbar zu bleiben“, sagt Sigrid. Mehr zu ihrem Leben als Autorin demnächst hier in der Blog-Serie „Wie geht es dir mit deinem Buch?“
Das Wort „verwunderbar“ ist bei einem Lesefehler entstanden. Es sollte natürlich „verwundbar“ heißen. Mit dem Verlesen verhält es sich wie mit dem Verirren: Manchmal kommt man nicht dorthin, wo man hinwollte, aber stolpert unterwegs dabei über etwas Beglückendes.
Ich erinnere mich daran, wie ich, als Studentin nach Wien zurückgekehrt, immer wieder die Orientierung verloren habe. Die Innenstadt war damals ein unentwirrbares verwirrendes Knäuel aus engen gekrümmten Gassen, die auf geheimnisvolle Weise zusammenhingen und sich manchmal, noch während ich in ihnen unterwegs war, unbemerkt neu ordneten, verschoben oder sich verzerrten. Immer wieder begegnete mir dabei an den überraschendsten Stellen der Stephansdom, und ich wunderte mich jedes Mal, wie umtriebig ein so großes altes Gebäude sein kann. Damals erkannte ich, dass Verirren eine Kunst ist und übte mich darin, indem ich keine Stadtpläne bei mir trug. Heute in Zeiten von Smartphone und Google Maps ist das Verirren schwierig geworden, eine aussterbende Kunst.
Beim Verirren zwischen den Buchstaben bin ich dann auch auf das Wort „verwunderbar“ gestoßen, oder besser: das Wort „verwunderbar“ ist mir in den Schoß gefallen, denn gestoßen klingt, als wäre es ein Unfall mit Personenschaden gewesen. Vielleicht muss man sich manchmal verlaufen, damit einem Glitzerdinge in den Schoß fallen können; vielleicht ist man nur im Zustand der Orientierungslosigkeit offen genug, um Unerwartetes als Geschenk erkennen zu können.
Ich mag das Wort „verwunderbar“, denn das Wundern liegt ganz nahe an der Verwundbarkeit. Wenn man sich nicht auskennt, ist man dem Leben ausgesetzt. Als Kind ist es mir nicht schwer gefallen, mich zu wundern. Ich wunderte mich über alles Mögliche: das bunte Muster in der Glasmurmel, über unverständliche Worte wie „Sowjetunion“ oder „Pornokino“, ich wunderte mich über Altarbilder, Vogelküken und die rätselhaften Zusammenhänge von Straßenbahnlinien. Wann begann ich eigentlich, das Wundern zu verlernen? Wahrscheinlich verlor ich in der Schule diese Fertigkeit nach und nach. Dort roch es nach dem Gummiboden im Turnsaal, nach Kreide und Vanillemilch, und es gab für alles eine Erklärung. Wer sie nicht wusste, war ein schlechter Schüler, und ich wollte eine besonders gute Schülerin sein. Immer weiter legte ich dann ein Koordinatensystem über meine Welt, und es begann, überall nach Turnsaal, Kreide und Vanillemilch zu riechen.
Ich weiß nicht mehr, wann ich anfing, um die letzten weißen Flecken auf der Landkarte zu kämpfen. Vielleicht, als ich in meiner Studienzeit durch die Straßen der Stadt irrte. Vielleicht, als ich mit meinen Kindern hinter dem Hügel im Garten Amerika entdeckte. Manchmal üben wir zusammen im Irrgarten von Schönbrunn das Verlaufen. Manchmal hätte ich gerne eine Landkarte fürs Leben, weil ich mir auf den Leerkilometern die Füße wund gelaufen bin. Manchmal entdecke ich im Zwickel von Autobahnbrücke und Lagerhalle, hinter der Tankstelle, dort, wo ich nie hinwollte, im Gebüsch zwischen Plastiksäckchen und Bierdosen etwas verheißungsvoll Glänzendes. Dann erinnere ich mich, dass die Welt eine Wunderkammer ist.
Text: Sigrid Eyb-Green, http://www.sigrid-eyb-green.com/
Foto: Arthur Bürger
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