„Nicht herbeigeträumt hat man den Süden, herbeigeschlafen hat man ihn …“ Sigrid Eyb-Green entführt uns in ihrem Gastbeitrag mit dem Nachtzug in den Süden.

Im Nachtzugzimmer

Im dritten Stock des Gründerzeithauses, dort, wo sich die großen, geschäftigen Räume des Architekturbüros nach innen kehren und Richtung Hinterhof verlieren , am Ende des langen Ganges und dem Tageslicht abgewandt liegt das Nachtzugzimmer. Schon beim Betreten des Raumes stellt sich jene Aufbruchs- und Abfahrtsstimmung ein, die sie jedes Mal am Bahnsteig befällt, bevor der Nachtzug einfährt. Dieses verheißungsvolles Flimmern, das entsteht, wenn Lautsprecheransagen durch leere Hallen spuken, wenn die mehr oder weniger klingenden Namen der Zielorte in den Warteräumen kurz aufleuchten und gleich wieder verdämmern, Scheibbs oder irgendeine Stadt im Süden, wenn die Stationsschilder blau schimmernd vor der Dunkelheit hängen, in der sich die Schienen totlaufen. Jetzt, beim Öffnen der Türe, erkennt sie dieses Vorhofflimmern langer nächtlicher Reisen wieder.

Rasch verstaut man das Gepäck und legt sich angezogen noch ein wenig auf das Bett, so, dass man aus dem Fenster schauen kann; zum Sitzen bleibt zu wenig Platz. Schon hat man die Lichter hinter sich gelassen, die den Bahnsteig ausleuchten wie eine Bühne ohne Stück. Man rollt durch die Vororte, vorbei an hellen Fenstern, an den bunten Reklameschriftzügen der Baumärkte, an Straßenlaternen und den Flutlichtanlagen leerer Parkplätze. Das monotone Rollen der Räder über die Schwellen macht schläfrig, und so gleitet man bald in ein Schlafland, während sich der Zug durch ein Nachtland bewegt, das sich unmerklich im Schutz der Dunkelheit verändert – ein zweifacher Ortswechsel also, innen und außen, im Gleichklang oder gegenläufig, sich kreuzend oder parallel, sich überlagernd und doppelbödig.

Ein Nachtzug ist, von außen betrachtet, eine lange, schmale, in sich geschlossene Welt, die durch die Nacht gleitet, schwer beladen mit Reisenden, ihrem Gepäck und ihrem dicht gedrängten Schlaf. Unterbrochen wird der Schlaf nur von der unerwarteten Stille an den Haltestellen, die plötzlich mit dem ausgelaugten Licht der Bahnsteige durch die Fenster in das Abteil sickert. Man treibt dann ein Stück hinauf, an die Oberfläche des Schlafs, wo die Namen der Stationen schwimmen und gleich wieder versinken, und man taumelt zusammen mit den vergessenen Orten hinunter.

Wenn man dann am nächsten Morgen erwacht, wird eine veränderte Landschaft am Fenster vorbeiziehen, vielleicht der Süden mit Steinhäusern und Zypressen oder gar das Meer. Man wird in der Nacht das Gebirge überwunden haben, das den Norden vom Süden trennt, und das vielleicht gar keine Masse aus Stein und Fels ist, sondern aus schwerem Schlaf. Ein Schlafgebirge, das erst im Durchmessen der Nacht entsteht. Man wird beim Anblick der fremden, in der Morgendämmerung ausgebreiteten Felder dann den Eindruck nicht los, dass die Tiefe des Schlafs erst die große Entfernung vom Ausgangspunkt der Reise bewirkt hatte. Wäre man nur kurz eingedöst, oder öfter aufgeschreckt – man wäre ohne Zweifel am Morgen noch diesseits der Grenze aufgewacht, wäre nie so weit gekommen, hätte mit seiner Schlaflosigkeit den Süden gar noch weiter in die Ferne gedrängt. Aber dem Gott des Schlafes sei‘s gedankt: man hat es wieder einmal geschafft. Nicht herbeigeträumt hat man den Süden, herbeigeschlafen hat man ihn. Nur noch eine Stunde bis Rom.

Sie sitzt im Nachtzugzimmer am Fenster und wartet auf den Ruck beim Anfahren. Wachwandelnd und Schlafschreibend setzt sie dann alles in Bewegung, schreibt eine Fremde herbei, einen Grenzfluss oder Gebirgszug; die über das Papier gleitende Hand ein Rollen, die aneinander gereihten Worte Waggons. Und zieht nicht am Fenster die Gumpendorferstraße vorbei, oder Kanarienvögel, oder der Süden?

Autorin: Sigrid Eyb-Green http://www.sigrid-eyb-green.com/
Foto: Sigrid Eyb-Green

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