Mondfalterraupe (Quelle: fotocommunity.de)

Wie hört es sich an, wenn Raupen an Birkenblättern nagen? Sigrid Eyb-Green erzählt von Geheimnissen in einer Welt, in der alles transparent ist:

In meiner Studienzeit habe ich Mondfalter gezüchtet. Aus den winzigen weißen Eiern wurden mit den Wochen fette, jadefarbene Raupen mit kleinen schwarzen und rosa Punkten. In der Nacht, wenn es ganz still war, hörte ich sie an den Birkenblättern nagen, die ich ihnen in einer Vase aufs Fensterbrett gestellt hatte; es war ein leise kratzendes Geräusch. Jeden Morgen waren die Blätter kahl gefressen. Eines Tages verpuppten sich die Raupen und spannen kupferfarbene, glänzende Kokons um ihre plumpen Körper. Es sah geheimnisvoll aus. Irgendwann wollte ich wissen, was darin vorging, und schnitt eines der Kokons mit einem scharfen Skalpell vorsichtig auf. Ich erinnere mich noch gut an den Schrecken, der mich erfasste, als ich die glänzende schwarze Puppe darin erblickte. Sie hatte die Form eines Mumiensarges und zuckte, um den vermeintlichen Angreifer abzuwehren. Es waren aber nicht die Puppe oder ihre unerwarteten Bewegungen, vor denen ich erschrocken war. Es war die Erkenntnis, dass manche Veränderungen im Verborgenen stattfinden müssen, ungesehen. Ich hatte diese Regel verletzt und etwas erblickt, das nicht für meine Augen bestimmt war.

Ich denke noch oft an den Anblick der glänzenden, schwarzen Puppe, in deren Inneren sich die Organe auflösen, in der sich die Organe verflüssigen. Der Prozess hat sein eigenes Tempo, und es ist nicht erkennbar, welche neuen Formen entstehen. Die Puppe erinnert mich daran, wie ich mich als Kind oft in Verstecke verkroch. Es war eng und manchmal dunkel an diesen Geheimplätzen, aber zugleich waren es offene und freie Orte, an denen ich unerreichbar blieb. Ich tat nichts Bestimmtes, ich war einfach nur unsichtbar. Ich glaube, dass in diesen Momenten etwas mit mir passierte, das schwer benennbar ist. „Passieren“ ist wohl das falsche Wort, denn es klingt nach „Unglück passieren“, es klingt scharf und plötzlich. Besser schreibe ich „es vollzieht sich etwas“ in solchen Momenten, etwas, das sich zugleich entzieht, dem man keine Richtung geben und das man nicht beschleunigen kann. Man muss ganz still sitzen, um es nicht zu stören.

Später habe ich gelernt, in einer Welt zu leben, in der alles transparent ist, in der das Innerste mit Therapeuten besprochen und von Röntgenstrahlen sichtbar gemacht wird. Kaum etwas ist unbenennbar, kaum etwas ist unsichtbar. An die schwarze, zuckende Schmetterlingspuppe habe ich zum ersten Mal wieder gedacht, als ich das erste Ultraschallbild meines Kindes sah. Da hatte ich wieder das Gefühl, etwas zu sehen, was nicht für meine Augen bestimmt war. Ich wollte mein Kind spüren und nicht sehen. Das ist schwer zu argumentieren in einer Welt, der die Geheimnisse abhandengekommen sind und in der man verächtlich von Geheimniskrämerei spricht.

Ich denke mir den Geheimniskrämer als sonderbaren alten Mann mit beschlagenen Brillengläsern und einem fadenscheinigen Mantel voller Taschen. Er hinkt ein wenig, und sein weißer Bart ist über den Lippen vom Rauchen gelb verfärbt. Im Tausch gegen ein paar Glasperlen und eine Zigarette zieht er eine kleine runde Schachtel aus einer seiner Taschen. Sie ist mit abgegriffenem schwarzem Leder überzogen und riecht nach Mottenpulver und altem Papier. Wenn man auf einen winzigen, blank geriebenen Messingknopf drückt, öffnet sie sich mit einem leisen Klicken. In der Schachtel liegt, auf einem hellrosa Samtpolster, rund und schimmernd, ein Geheimnis.

Autorin: Sigrid Eyb-Green: http://www.sigrid-eyb-green.com/

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