Ich konnte die Wiener Schreibtrainerin Michaela Holler für einen Gast-Blogbeitrag zum Thema „fesselnde Charaktere entwickeln“ gewinnen – voila:
Charakter zeigen
Ein minutiös geplanter Plot garantiert noch lange keine gute Geschichte. Es sind die ProtagonistInnen, die eine Story vorantreiben und – im besten Fall – unvergesslich machen.
My name is Karim Amir, and I am an Englishman born and bred, almost. I am often considered to be a funny kind of Englishman, a new breed, as it were having emerged from two old histories. But I don’t care – Englishman I am though not proud of it, from the South London suburbs and going somewhere. (Hanif Kureishi, “The Buddha of Suburbia“)
Als ich vor exakt 25 Jahren an einem schwülen Maitag, im schattigen Arkadenhof der Uni Wien sitzend, diese Zeilen las, war es Liebe auf den ersten 300 Zeichen. Binnen Sekunden versank ich vollends in der für mich aufregend fremdartigen Welt von “The Buddha of Suburbia“ (1990), dem Debüt-Roman des britischen Schriftstellers Hanif Kureishi.
Ein Dschungelheld und ein Buddha zum Fremdschämen
In Kureishis stark autobiografisch inspirierter Coming-of-Age-Geschichte, geschildert aus der Sicht des 17-jährigen Ich-Erzählers Karim, Sohn einer Engländerin und eines Inders, verströmt das London der späten 70er-Jahre eine von Sex, Drugs & Rock`n`Roll geschwängerte, noch immer swingende Aura, wenngleich die Thatcher-Ära bereits ihre Schatten vorauswirft.
Auf der Suche nach sich selbst und einem besseren Leben, gelingt es Karim zwar, die triste, von rassistischen Ressentiments geprägte Südlondoner Vorstadt hinter sich zu lassen und in der Theater-Szene der City ein Engagement als Schauspieler zu ergattern. Wegen seines exotischen Aussehens wird er jedoch stereotyp mit der Rolle des Dschungelbuch-Helden Mogli besetzt, den er zu seinem Entsetzen als animalischen Halbwilden darstellen soll.
Bewusst mit seinen Wurzeln kokettiert hingegen Karims Vater Haroon, ein frustrierter kleiner Beamter. Auf den Partys seiner exzentrischen Geliebten Eva präsentiert er sich als erleuchteter Guru, was bei den Gästen bestens ankommt. Nur Karim durchschaut diese Inszenierungen und findet sie zum Fremdschämen.
Unvergesslich zwerchfellerschütternd sind auch die Szenen mit einer Neben-Figur:
Changez, dessen Name sich von Dschingis Khan ableitet, ist allerdings kein testosterongetriebener Krieger, sondern ein dicklicher Tollpatsch. Von Karims Onkel als Bräutigam für seine Tochter Jamila aus der alten Heimat nach London geholt, entpuppt er sich als herbe Enttäuschung: linkisch und mit einem verkrüppelten Arm, ist er für die Arbeit im Corner Shop der Familie ungeeignet. Als er seinem Schwiegervater bei einem Streit einen Kopfschlag mit einem Dildo versetzt, der zu einem Herzversagen führt, ist Changez` Schicksal als grotesker Anti-Held endgültig besiegelt: Jamila und Karim nennen ihn nur noch „the dildo killer“.
Kureishis Talent, seine ProtagonistInnen mit ihren Schwächen, Sehnsüchten und Selbsttäuschungen so überzeugend authentisch und mit der für den Lesegenuss nötigen Portion Humor zu zeigen, begeisterte selbstverständlich nicht nur mich. In zwanzig Sprachen übersetzt, geriet „The Buddha of Suburbia“ zum internationalen Bestseller, dessen Potenzial auch der BBC nicht verborgen blieb: 1993 wurde der Roman als vierteilige Fernsehserie verfilmt, für die kein Geringerer als David Bowie den Soundtrack beisteuerte.
Doch wie schafft man es, so nachhaltig beeindruckende Charaktere zu kreieren, die ihren LeserInnen auch nach einem Vierteljahrhundert noch in Herz & Hirn verankert geblieben sind?
Eine mögliche Antwort auf diese Frage liefert Horror-Experte Stephen King in seinem autobiografischen Werk „On Writing“ (2000), in dem er seine persönlichen Dos & Dont`s fürs Schreiben preisgibt. Er empfiehlt potenziellen AutorInnen, keinesfalls Zeit mit dem Planen gefinkelter Handlungsverläufe zu verschwenden. Viel zielführender ist es, so King, sich vollends auf die ProtagonistInnen zu konzentrieren, denn die wissen schon, was sie wollen und treiben so die Story voran. Seine Arbeitsweise vergleicht King mit der Tätigkeit von ArchäologInnen: Um zum Kern einer Geschichte vorzudringen, behandle er sie wie ein „Fossil“, wie ein kostbares Fundstück, das er – nach den Wünschen seiner Figuren – Schicht für Schicht freilege.
Auch in dem mit spannenden Schreibaufgaben gespickten Handbuch „Courage and Craft: Writing Your Life into Story“ (2007) der amerikanischen Autorin Barbara Abercrombie kommt das Entwerfen von Figuren nicht zu kurz: So regt Abercrombie dazu an, sich aus einer vorgegeben Namensliste spontan einen herauszupicken und sich die dahinter steckende Person detailreich zu visualisieren, sich in sie einzufühlen und ihre Wünsche, Bedürfnisse, Abneigungen etc. unzensiert festzuhalten – selbst wenn einem diese völlig lächerlich erscheinen! Nur so gelangt man in die richtige Geisteshaltung fürs Geschichtenschreiben und wunderbar verschrobene Details fliegen einem gleichsam aus dem Nichts zu, ist Abercrombie überzeugt:
There is absolutely no logical way to do this exercise. But trust me – if you`re meant to write fiction, weird and wonderful details will suddenly appear out of the air for you. The other day in class [one of my students,] Valerie [,] read notes about a character who popped out under the table and walked around the class, jangling her bracelets and fluffing people`s hair. In another class she had written about [a female character named ] Merta Castillo, who, she told us, was still living in her house. This ist the kind of mind-set to write fiction. (Barabara Abercrombie, „Courage&Craft. Writing Your Life into Story“)
Autorin: Michaela Holler
Bild: Cover von Hanif Kureishis Buddha of Suburbia
P.S.: Wer nun Lust bekommen hat, (über)lebensechte literarische Figuren in geselliger Runde und mit maximalem Spaßfaktor zu kreieren, ist herzlichst eingeladen zur nächsten
Schreibnacht „Walk a mile in my shoes – ein Perspektivenwechsel“
Datum: Freitag, der 4. Mai 2018 (keine Anmeldung erforderlich)
Ort: Writers` Studio, Pramergasse 21, 1090 Wien
Beginn: 20:00 pünktlich (Einlass: 19:45, entspanntes Ankommen bei Keksen & Tee)
Eintritt: 30 Euro (Schreibmaterial vorhanden)
Leitung: Mag. Michaela Holler
Literatur:
Kureishi, Hanif (1990). The Buddha of Suburbia. United Kingdom: Faber & Faber
(dt. Fassung: Der Buddha aus der Vorstadt. Fischer Taschenbuch Verlag 2014)
King, Stephen (2000). On Writing. A Memoir of the Craft. Great Britain: Hodder and Stoughton
Abercrombie, Barbara (2007). Courage& Craft. Writing Your Life into Story. California: New World Library.
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