oma„Ich erinnere mich…“ ist ein wunderbarer Schreib-Impuls von Natalie Goldberg , um mit der Schreibtechnik des freewriting in freier Assoziation Erinnerungen zutage zu fördern.

Ich beginne diesen Essay über das Erinnern an meinem derzeitigen Lieblingsschreibplatz im Belvedere, am Kaskadenbrunnen. Hier lässt das beständige Strömen und Fließen des Wassers über die fünf Stufen mein Denken und Schreiben fließen. Gleichzeitig erfrischt mich ein feiner Sprühregen, wenn der Wind das Wasser verweht.

Das Belvedere ist für mich ein Ort der Erinnerung. Alte Fotos beweisen, dass ich bereits im Alter von zwei Jahren öfters im Belvedere spazieren ging. Meine Füße erinnern sich beim ersten Spaziergang als Erwachsene im Belvedere, mehr als vierzig Jahre später, an die Abwasserrinnen, deren runde Kieselsteine so angenehm durch die weichen Sohlen meiner Mokassins drücken. Vor einer Woche war ich im strömenden Regen hier, um zu erleben, wie das Wasser in diesen Abflussrinnen hinabrauscht und der Brunnen vom Regen mächtig angeschwollen ist. Heute, eine Woche später, ist ein Altweibersommertag mit strahlend blauem Himmel und Sonnenschein, der im Wasser glitzert. Ein paar freche Krähen tauchen ihre Köpfe blitzschnell ins Wasser, um sich eine Dusche zu verpassen.

Erinnern ist für mich ein zentrales Thema. Ich schreibe seit fünfunddreißig Jahren in Tagebücher, um gegen das Vergessen anzukämpfen. Oder auch, um mich jederzeit an einen bestimmten Tag, eine Stimmung, ein Gefühl, eine Sehnsucht, einen bestimmten Gedanken erinnern zu können. Je nach Art der jeweiligen Aufzeichnung gelingt mir das gut oder mehr schlecht als recht. Denn das Gedächtnis ist stets rekonstruktiv.

Spannend finde ich hier den Ansatz von Maurice Halbwachs, der sagt, Erinnerung sei nicht die Angelegenheit eines einsamen Einzelnen, sondern werde vielmehr durch den Austausch zwischen Menschen und somit immer in einem bestimmten sozialen Rahmen hergestellt. Das bedeutet u.a., dass die sich ständig ändernden Bezugsrahmen der Gegenwart die Erinnerungen immer wieder neu reorganisieren. Gibt es keinen Bezugsrahmen, wird vergessen.

Schreiben heißt auch, den Erinnerungen eine neue Ordnung geben, wie beim Collagieren Sinnzusammenhänge zu zertrümmern und durch dieses „Sezieren“ auch Beobachtungen und Einsichten zu ermöglichen, die in den ursprünglichen Zusammenhängen verborgen bleiben. Memoir schreiben hat mich auf die Spuren von Familienerinnerungen geführt, ich bin in ein anderes fiktionales Ich, in die Haut meiner Großmutter (übrigens mit mir auf dem Bild dieses Beitrags :-)) , meiner Mutter, meines Vaters… geschlüpft, um in einen anderen Erinnerungsraum einzutauchen. Mein Aufschreiben ist wie jedes Erinnern ein aktiver Akt der Interpretation der Vergangenheit.

Zeit für die nächste Spurensuche mit einem zehnminütigen freewriting: „Ich erinnere mich…“

Johanna Vedral

Goldberg, Natalie: Old Friend from far away. The Practice of Writing Memoir. Free Press: N.Y., 2007
Sieder, Reinhard: Einführung in die Kulturwissenschaften / Cultural Studies, B, VO. Gedächtnis – Erinnerung – Identität. Cultural Studies, Universität Wien

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